16.08.1829 bis 21.06.1901

Thea Cail­lieux

„Mehr Ach­tung und Ver­trau­en, Ar­beit und Wis­sen für un­ser Ge­schlecht”


In den fünf­zi­ger Jah­ren des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts, fünf­zig Jah­re nach ih­rem Tod, er­in­nert man sich in Tü­bin­gen noch an sie als ei­ne „hoch­her­zi­ge und hilf­rei­che”, „ed­le Frau”, die „ih­rer Zeit weit vor­aus” war, ei­nen „schar­fen Ver­stand” hat­te und als „ei­ne der be­lieb­tes­ten und be­kann­tes­ten Per­sön­lich­kei­ten der Stadt Tü­bin­gen”  galt. Die Re­de ist von Mat­hil­de We­ber. 

Wer war die­se “Wohl­tä­te­rin der Stadt Tü­bin­gen”? Was war an ihr noch ein hal­bes Jahr­hun­dert nach ih­rem Tod so lo­bens­wert?

1869, mit 40 Jah­ren, kommt Mat­hil­de We­ber in Kon­takt mit der bür­ger­li­chen Frau­en­be­we­gung und wird in den Vor­stand des All­ge­mei­nen Deut­schen Frau­en­ver­eins ge­wählt. In Tü­bin­gen ent­fal­tet die rüh­ri­ge Pro­fes­so­ren­gat­tin jetzt ei­ne Viel­zahl von Ak­ti­vi­tä­ten, die vor al­lem dar­auf ab­zie­len, Bil­dungs-, Be­rufs- und Le­bens­chan­cen von Frau­en zu ver­bes­sern.
In den zitierten Zeitungsartikeln aus dem Schwäbischen Tagblatt und der Tübinger Chronik, wird vor allem Mathilde Webers sozial-karitatives Engagement für die Tübinger der Unteren Stadt hervorgehoben. Tatsächlich hat sie sich in erster Linie für die Nöte von Frauen eingesetzt, denn Armut trifft auch im 19. Jahrhundert Frauen und Kinder besonders hart.

Das 19. Jahrhundert bringt in Deutschland eine Bevölkerungsexplosion. In Tübingen verdreifacht sich die Bevölkerung beinahe. Die Entwicklung der Infrastruktur hält mit diesem Tempo nicht mit. Zusätzliche Probleme bringt die Anbindung Tübingens an das Bahnnetz (1861) und die Einführung der Gewerbefreiheit (1862). Billige Einfuhren auswärtiger Produkte verschärfen die Lage der heimischen Handwerker und Weinbauern. Verschuldung und Verarmung weiter Bevölkerungsteile ist die Folge. Trotz rigoroser Verbote wird zunehmend gebettelt. Die „Tübinger Chronik” meldet immer wieder den verzweifelten „Tod eines hiesigen Bürgers” durch Selbstmord.

Mathilde Weber kennt diese Not genau. Regelmäßig macht sie selbst ihre Besuche in der Unteren Stadt, hat „ihre” Familien, für die sie sorgt. Ihr Mitleid angesichts der Not der Armen bringt sie zum Handeln.

In ihren Schriften beklagt sie die Not der Bewohner der Unteren Stadt: die Hungerlöhne, die trostlosen, öden „Stübchen”, die unzureichende Nahrung, die schlechte Gesundheit, die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten für junge Frauen, wodurch sie auf die „Bahn des Verderbens” kämen. Aus der Perspektive der bürgerlichen Frau von Stand entsteht ein von Mitgefühl getragenes Bild der bitteren Armut des größten Teils der Stadtbevölkerung.

Ganz praktisch, wie sie ist, ermuntert sie ihre Standesgenossinnen zur „Privatwohltätigkeit”, fordert sie auf, selbst Essensreste, alte Kleider, Tapetenreste etc. in die untere Stadt zu bringen, Brücken zu bilden zwischen „Hütte und Palast” und so ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen.

Mathilde Weber setzt sich auch für strukturelle Verbesserungen ein. Erfolgreich ist sie v.a. bei dem Bemühen, einen Beitrag zur Verbesserung der Wohnverhältnisse zu leisten. Von der Stadt Tübingen erhält sie die Zusage für kostenlose Bauplätze. Mit Wohltätigkeitsbazaren und durch  Stiftungen kommt das Geld für den Bau von zwei Häusern zusammen, in denen Bedürftige sehr preiswert Wohnraum mieten können: das „Jägerstift” in der Belthlestraße 31/33 und das nach ihr benannte „Weberstift” in der Weberstraße 7.

Mit der Einrichtung einer „Kleinkinderschule” ermöglicht sie die Versorgung von Kindern „unbemittelter arbeitsamer Eltern”, die in aller Regel im Weinbau, als Taglöhner, Waschfrauen, Dienstmädchen, Köchinnen arbeiten.

Besonders am Herzen liegen Mathilde Weber erzieherische Maßnahmen: oft wettert sie gegen Alkoholismus und angebliche Verschwendungssucht der Unterschichten. Mit einer „Pfennigkasse”, in der auch kleinste Geldbeträge eingezahlt werden konnten, versucht sie zu erreichen, dass die Kinder der Armen früh zu Sparsamkeit erzogen werden.

Sie sieht aber auch die nicht so dramatischen Wohnungsnöte alleinstehender Frauen ihrer eigenen Schicht, Frauen, die oft als ungeliebte Tanten in den Familien von Verwandten nur geduldet werden oder die nach ihrer Tätigkeit z.B. als Musiklehrerin im Alter unversorgt sind. Für diese „Honoratiorentöchter“ entsteht an der Hechingerstraße 20 das nach Mathilde Weber benannte „Mathildenstift”.
Mathilde Webers Überzeugung, dass Bildung und Erziehung geeignet sind, gesellschaftliche Verbesserungen herbeizuführen, zeigt sich in der Fülle der von ihr gegründeten oder mitgegründeten  Bildungseinrichtungen.

Mathilde Weber

Eine sei besonders erwähnt: die heutige Mathilde-Weber-Schule. 1875 von ihr und Ottilie Wildermuth mitgegründet als Frauenarbeitsschule, sollte die Schule „höheren Töchtern” einen „mustergiltigen höheren systematischen Arbeitsunterricht” ermöglichen. „Höhere Töchter” in einem Atemzug mit „Arbeit” zu nennen, muss für viele Tübinger Honoratioren eine Provokation gewesen sein. Als Arbeit war für „höhere Töchter” nur dekorative Handarbeit im Sinne von Häkeln, Sticken u. ä. zulässig. Hintergrund dafür war die Verachtung der körperlichen Arbeit. Nach dem Vorbild der Oberschicht delegierte ein zunehmend selbstbewusst gewordenes Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt die Arbeit an Dienstpersonal. „Berufsarbeit“ wurde so aus der familiären Lebenswelt verbannt. Bürgertöchter wurden normgemäß „arbeitslos“, Dienstmädchen entsprechend wenig geachtet.

Mathilde Weber, die sehr ungezwungen auf dem Land, auf einem Gut bei Ellwangen, aufgewachsen war, lehnt den so entstandenen Zustand entschieden ab: „... wenn in einem töchterreichen Hause alles Denkbare und Undenkbare überhäkelt, überstickt, übermalt, gebrannt, gebeizt und modelliert ist, da überkommt einen doch ein großes Schmerzgefühl, daß dieser Thatendrang nicht zu Ersprießlicherem verwendet werden konnte.”

Immer wieder geißelt sie den erzwungenen Müßiggang der bürgerlichen Frauen und begibt sich so ganz bewusst in Widerspruch zur öffentlichen Moral.

Konsequenterweise setzt sie sich aber auch ein für bessere Lebensbedingungen von Mädchen der weniger begüterten Schichten. Zwar stellt Mathilde Weber nie die Gesellschaftsordnung ihrer Zeit grundsätzlich in Frage, doch äußert sie immerhin Kritik an der Ausbeutung von Dienstmädchen: „Nur dagegen möchte man Abhilfe erstreben, daß die Mädchen mit zu viel oder gar zu schlecht bezahlter Arbeit ihre Kräfte aufreiben müssen.”

Etwas deutlicher wird sie schon bei den Pflegerinnen. In Form eines fiktiven Briefes beklagt sie die Ausbeutung von Pflegerinnen: „Die grausame Gepflogenheit des Krankenhauses in N.N., (...), den Schwestern nach gehabter Nachtwache kein Schlafen zu gestatten, sondern zwölf Stunden Tagesdienst von ihnen zu verlangen, hat besonders dazu beigetragen, ihre sonst gute Gesundheit so zu erschüttern, daß sie nach 1 ½ jähriger Thätigkeit den Beruf einer Krankenschwester ganz aufgeben muß.”

Deutliche Worte findet sie für die dürftige Ausbildung: „Es ist unfaßlich, daß dieser schwere und verantwortungsvolle Dienst auch solchen zugemutet wird, die kaum eine vierwöchige Lehrzeit hinter sich haben und alle Krankheitssymptome noch gar nicht kennen können.”

Die schärfste Kritik gilt den Ärzten: „Eins aber steht für mich unfraglich fest: Die Ärzte legen zwar Wert darauf, mit gebildeten Pflegerinnen zu arbeiten, aber viele der jüngeren durchaus keinen, sich diesen gegenüber wie gesellschaftlich Gleichgestellten und nur dienstlich Untergeordneten zu betragen. Kein General würde seinen Adjutanten so brutal anfahren.”

Für alle möglichen Missstände denkt sich Mathilde Weber Schulen, Sonntag- und Hilfsvereine aus, die zunächst als Ersatz für nicht vorhandene Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen unterschiedlicher Schichten dienen sollen. Für die Dienstmädchen fordert sie eine geeignete Ausbildung, die sie auch selbst gleich in die Tat umsetzt.

Standesgemäße Professorengattinnen, die ganz auf der Seite ihrer Männer stehen, rümpfen über solche Bestrebungen nur die Nase. Aber Mathilde Weber weiß es besser: „Es giebt aber so viele ältere gediegene, wohlhabendere Fräulein, kinderlose Wittwen und Frauen oder solche, deren erwachsene Kinder die elterliche Heimath mit einer eigenen vertauscht haben; die Mütter sind nun einsam, sie leiden alle innerlich unsäglich an dem unbeschäftigt sein des Reichtums und sehnen sich nach einer befriedigenden, gemeinnützigen Thätigkeit. Denn trotz dem kurzsichtigen und oberflächlichen Rath der Philister, „sie sollen sich eben in ihrem Hauswesen zu thun machen”, füllt dasselbe neben einer guten Dienerin weder ihre Zeit noch ihr Leben aus. Sollen sie denn aber ewig sticken, flicken, malen, Klavierspielen, lesen, sich putzen und in Gesellschaft gehen?”
Bei Mathilde Webers vielleicht wichtigstem Engagement, ihrem Kampf für die Öffnung der Universitäten für Frauen, gibt es entschiedenen Widerstand. Was ist es, was Mathilde Weber in ihrer Streitschrift „Ärztinnen für Frauenkrankheiten”, die 1887 erscheint, fordert. Mit dem Untertitel „Eine ethische und sanitäre Notwendigkeit” deutet sie auch gleich schon die Begründungen für ihre Forderungen an. Beide Gründe hängen eng zusammen.

Mathilde Weber sieht die Gesundheit vieler Frauen und Mädchen gefährdet und beschädigt, weil sie zu lange zögern oder es ganz vermeiden, zum (männlichen) Gynäkologen zu gehen. Eben dieses Widerstreben ist mit dem zweiten Grund („ethische Notwendigkeit”) verbunden, dem ausgeprägten Schamgefühl. Schließlich galt das gesamte Sexualleben als tabuiert. Die Autorin weist auf den Widerspruch zwischen Erziehung zu „Zartgefühl” und Schamhaftigkeit einerseits und die ihrer Meinung nach unnötige Überwindung desselben hin, die beim Gang zum Gynäkologen verlangt wird, ein Widerspruch, der in einer Universitätsstadt wie Tübingen besondere Schärfe annehmen konnte, wenn Untersuchungen an „Studienobjekten”  im Hörsaal vorgenommen wurden: „... warum zwingt man bei uns noch diese kranken Frauen und Mädchen, ihr angeborenes und als eine der gerühmtesten und schönsten weiblichen Eigenschaften auch anerzogenes Zartgefühl ablegen zu müssen?”

Noch in einer weiteren Hinsicht befinden sich die Frauen in einer widersprüchlichen Situation. Die von der öffentlichen Moral verlangte Schamhaftigkeit widerspricht einer typischen Entwicklung des von den Naturwissenschaften geprägten 19. Jahrhunderts: „Den Frauenarzt aufzusuchen entschließt sich die Frau viel schwerer, weil sie weiß, daß er nicht mehr wie früher (...) mit einem Rezept antwortet, sondern eine Untersuchung verlangt.”

Die Ärzte beziehen sich auf ihre naturwissenschaftlichen Grundlagen und beharren jetzt auf einer Untersuchung. Gleichzeitig gilt für Frauen nach wie vor Schamhaftigkeit als oberster Wert. Das körperfeindliche und das naturwissenschaftliche 19. Jahrhundert treffen im Konflikt der Frauen aufeinander. Auch diese Körperfeindlichkeit hinterfragt Mathilde Weber: „... vertraut man uns das geistige und ethische häusliche Glück der Familie an, warum nicht auch die Behandlung und das Studium unseres eigenen Körpers?”

In ihrer Zeit, in der Frauen in ihren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt waren wie nie zuvor, ist das revolutionär.

Mathilde Weber argumentiert aber auch mit der besonderen Qualifikation der Frauen für den Beruf der Ärztin. Zum einen weist sie darauf hin, dass Männer sich bei der Behandlung von Frauenkrankheiten immer auf die Schilderung von Frauen verlassen müssen, Frauen dagegen auf eigenem Erleben aufbauen können. Zum zweiten sieht sie Frauen für diesen Beruf besonders geeignet, da ihre Hände „von Jugend auf durch die feinsten und schwierigsten Handarbeiten gestärkt”  wurden. Und schließlich seien Frauen in der  Familie gefordert, für das Wohlergehen ihrer Lieben zu sorgen und somit besser psychologisch geschult. Vorteile in den scheinbaren Defiziten entdecken: Diese Argumentation finden wir heute bei Frauen, die nach der Familienpause wieder in den Beruf streben.

Also: Ärztinnen für Frauen!

Mathilde Webers Streitschrift, die in der ersten Woche ihres Erscheinens schon vergriffen war und innerhalb von fünf Jahren fünf Auflagen erlebte, wurde als Begleitschrift Petitionen an Landtag und Reichstag beigelegt. Die Petition im Wortlaut: „Bitte des allgemeinen Deutschen Frauenvereins um Zulassung der Frauen zum Studium der Medizin und zur ärztlichen Praxis, sowie ferner zum Besuch der Universität behufs Erwerbung der Befähigung zum Lehramt an höheren Mädchenschulen.”

Insbesondere bei der Medizinerschaft löste dies einen Sturm der Entrüstung aus, bei den Politikern auch Heiterkeit  und Ratlosigkeit. Letztere wussten nicht recht, wer denn eigentlich zuständig sei, Landtag oder Reichstag, und wiesen sich die Verantwortung gegenseitig zu. Fortschrittliche Kräfte erkannten, dass der Behauptung, dass „eigentlich nur noch das Deutsche Reich, Ungarn und die Türkei zurückgeblieben seien, kaum widersprochen werden” könne.  Die Bereitschaft, das Anliegen der Frauen ernst zu nehmen, mag man vielleicht auch darin erkennen, dass mit Erlass vom 14. April 1888 das „Königl. Ministerium des Innern” in Stuttgart das „Königl. Medizinal-Kollegium” zu einer Stellungnahme auffordert „betreffend der Aussetzung von Stipendien an weibliche zum Studium der Medizin geeignete und geneigte Personen.”

In ihrer Stellungnahme, die dieser Aufforderung folgt, bestätigen die Mediziner Mathilde Webers Beobachtung, dass Frauen gynäkologische Untersuchungen vermeiden. Natürlich sehen sie in Ärztinnen für Patientinnen nicht die Lösung. Es liegt nahe, dass ihre Begründungen nicht sehr stringent sind. Die Begründung der Ärzte läuft so: Frauen scheuten eben den mit der Behandlung verbundenen Aufwand an Zeit und würden „bald rückfällig, weil sie sich vorzeitig wieder beschäftigen und vergnügen wollen.”  Das könnten auch Ärztinnen nicht ändern, was die Ärzte mit einem Seitenhieb auf Hebammen zu untermauern suchen: „Letzteres beweisen besonders die zahlreichen Fälle von verbrecherischen Abortus, die durch medikastrierende Hebammen eingeleitet werden.” Dennoch sehen die Ärzte in besser ausgebildeten Hebammen eine Lösung des Problems, das sie irgendwie anerkennen. Schon sei die Ausbildung von drei auf fünf Monate verlängert worden, mehr sei möglich, wenn sie für ihre Lehranstalt mehr Geld und Personal, also Mediziner, bekämen.
Die Mediziner sprechen den Frauen nicht die Fähigkeit ab Medizin zu studieren, wohl aber zu praktizieren. Der Beruf verlange die „volle Manneskraft”. Fehlanzeige bei Frauen! Auch die Menstruation würde immer „ein Hindernis bleiben”. Dann aber kommt der wesentliche Grund, Angst vor Konkurrenz: „... die Anstellung einer Ärztin in einem ländlichen Distrikt könnte gar leicht die Versorgung desselben mit einem tüchtigen Arzt in Frage stellen.”

Versteht sich, dass die Mediziner die „Zweckmäßigkeit” eines Stipendiums für Medizinstudentinnen „entschieden bezweifeln”. Schließlich gebe es ja auch keine Mädchen, die die „nötige Reife besitzen”. Immerhin wagt das Medizinal-Kollegium einen Blick in „ferne Zukunft”, womit sie sich dann aber auch selbst widersprechen: „Etwas Anderes, das aber wohl in weiter Ferne liegt wäre es, wenn deutsche Frauen nach regelrecht absolvierter Maturitätsprüfung auf deutschen Universitäten ärztlich vollkommen ausgebildet und approbiert sich zur unbeschränkten Ausübung der ärztlichen Praxis melden würden, in solchem Falle würden wir vom rein ärztlichen Standpunkte aus nicht anstehen, zu befürworten, daß denselben auch die Praxis in ganzem Umfange freizugeben wäre.”

Bitter für Mathilde Weber: Die massivsten Einwendungen kommen vom Leiter der Landeshebammenschule in Stuttgart, dem Gynäkologen Gustav Walcher, Mathilde Webers Neffen:
„Es ist die Pflicht aller erhaltenden Elemente, der jetzigen Gesellschaft, einer Umsturzpartei, wie sich die Frauenemanzipationspartei in ihrem Konsequenzen darstellt, mit aller Macht entgegenzutreten, selbst wenn es nicht gelingen sollte, die Bewegung aufzuhalten.”

Genau besehen geht es Mathilde Weber auch nicht nur um die Zulassung zum Studium der Gynäkologie und natürlich damit der Medizin allgemein, sondern überhaupt um die Öffnung der Universitäten für Frauen. So fordert die schon genannte Petition, die von Louise Otto Peters, Auguste Schmidt, Mathilde Weber u.a. unterzeichnet ist, ja auch den „Besuch der Universität behufs Erwerbung der Befähigung zum Lehramt an höheren Mädchenschulen”, eine Forderung, die wohl aus taktischen Gründen fallen gelassen wird, da sie nicht so viel Unterstützung findet wie die nach Zulassung zum Medizinstudium.

Den Erfolg ihrer Bemühungen erlebt Mathilde Weber nicht mehr, erst 1904 werden die ersten Frauen offiziell zum Studium an der Universität Tübingen zugelassen. Es gibt aber eine „inoffizielle” erste Studentin, die Mathilde Weber unterstützt: Maria von Linden, die auf Vermittlung ihres einflussreichen Onkels Karl Graf von Linden, dem Gründer des Lindenmuseums in Stuttgart, schon 1900 zugelassen wird. Ihr verschafft Mathilde Weber ein Stipendium des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins.

Mathilde WeberDie Nachrufe von 1951, 1952 und 1953 heben die sozial-karitativen Aktivitäten Mathilde Webers hervor, die frauenpolitischen werden nur in einer Nebenbemerkung erwähnt. Ihr Kampf für die Zulassung von Frauen zur Universität scheint ganz vergessen. Zufall?
Sicher nicht! Die Nachrufe fallen in eine Zeit, in der versucht wird, Frauen wieder aus dem Berufsleben hinauszudrängen, nachdem Krieg und Nachkrieg quasi eine berufliche Emanzipation erzwungen hatten. Im Mai 1950 verabschiedet der Bundestag ein vorläufiges Beamtengesetz, in dem es heißt: „Ein weiblicher Beamter kann, wenn er sich verehelicht, entlassen werden, wenn seine wirtschaftliche Versorgung nach der Höhe des Familieneinkommens dauernd gesichert erscheint.“ Zu dieser Zeit scheint Politikern und auch den Verfassern der Nachrufe die Wohltätigkeit der Frau besser ins Konzept zu passen  als ihre Berufstätigkeit.
Für soziale Gerechtigkeit, gegen Armut, für Wohltätigkeit, gegen den Müßiggang, für die Achtung körperlicher Arbeit, gegen Körperfeindlichkeit, gegen erzwungene Berufslosigkeit von Bürgertöchtern, gegen doppelte Moral, für bessere Bildungschancen von Frauen: Mathilde Weber kämpft unermüdlich!

Bleibt die Frage: Was hat sie zu all dem bewegt? Woher hatte sie die Kraft? Gab es Vorbilder?
Mit 40 Jahren kommt Mathilde Weber eine Nummer der „Neuen Bahnen”, des Organs des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins in die Hände. Das war vielleicht zufällig. Dass sie sich davon ansprechen und zum Handeln bewegen lässt, dagegen nicht.

Es mag zum einen mit ihrer persönlichen Situation zusammenhängen: Sie ist kinderlos und wird die „gute Hoffnung” mittlerweile aufgegeben haben. Sie ist durch den Ehrenkodex ihrer Zeit zu Müßiggang verpflichtet, aber voller Tatendrang: eine „Powerfrau” auf der Suche nach einem Tätigkeitsfeld.

Unterstützt wird sie in ihrem Bemühungen - und das ist nicht zu unterschätzen - durch ihrem Mann Heinrich Weber, der sie z.T. auch zu den Treffen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins begleitet. Damit geht auch er bis an die Grenze dessen, was gesellschaftlich vielleicht gerade noch tolerabel war.

Auch in ihrer offenbar recht liberalen Erziehung im elterlichen Haus bei Ellwangen lassen sich Quellen für ihr späteres Engagement entdecken. Anekdoten erzählen von dem ungebundenen Umherstreifen der Walzkinder (ohne Schuhe!) und dem selbstverständlichen Kontakt zu den Kindern der Bauern, was ihr später das Verständnis gegenüber den Gogen der Unteren Stadt in Tübingen erleichtert haben mag.

Aber auch zur “besseren Gesellschaft” mag ihr der Kontakt in ihrer Kindheit durch die Erfahrungen ihres Vaters schon leicht gemacht worden sein. Im Alter von 12 Jahren wird dieser Vollwaise und wird im Hause seiner Tante Friederike Rapp, einer Freundin von Charlotte Schiller, erzogen. Das Rappsche Haus war ein Zentrum des geistigen Lebens in Stuttgart, in dem nicht nur fast alle schwäbischen Dichter der Zeit verkehrten, sondern auch Schiller und Goethe gern zu Gast waren. Johann Heinrich Dannecker war ein Freund der Familie.

Sicher gehen auch von hier prägende Einflüsse auf Mathilde Weber aus. Jedenfalls nutzt sie ihre Verbindungen zu einflussreichen Kreisen in Stuttgart, wenn es darum geht, für ihre Wohltätigkeitsprojekte Geld zusammenzubringen.

Während Ottilie Wildermuth weit entfernt ist von frauenpolitischem Engagement , kämpft Mathilde Weber beharrlich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der „anderen Hälfte der Menschheit“.
Vorbilder hatte sie für dieses Engagement wohl kaum in den Frauen, dafür aber in den Männern ihrer Familie. Ganz dem Gedankengut der Aufklärung verpflichtet, an die „Perfektibilität” des Menschen glaubend, arbeiten die Männer der Familie Walz als Pfarrer, Lehrer, Ärzte und Apotheker an der „Hebung” der in ihrem Bereich liegenden Verhältnisse und zugleich daran, die noch jungen Berufsstände zu etablieren. Schon früh findet sich dieses Denken auch bei Mathilde Webers Vater, Gustav Walz, der sich in einer kleinen biographischen Schrift  als naturverbundenen Siebenjährigen schildert, der „mit großer Freude bei der Urbarmachung von Wald” half, weil er dies „für eine Wohltat für die Menschheit ansah”. Ebenso begründet er sein Engagement bei der Urbarmachung von Wald rund um Schloss Roseck bei Tübingen während seines Studiums.

Hier finden sich gleich verschiedene Gedanken, die für Mathilde Weber leitend sind:
Massiv setzt sie sich gegen unnötigen Zierrat und für ungekünstelte Natürlichkeit ein. Sie ist getragen von der Überzeugung, dass sich gegebene Verhältnisse durch das Engagement Einzelner verbessern lassen. Resignation ist ihr fremd. Ihr geht es vor allem darum, Berufsmöglichkeiten für Frauen zu etablieren und damit um die „Hebung” der Frauen, der „anderen Hälfte der Menschheit”. vorfindet. Sie nimmt ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr, engagiert sich, ist kreativ in ihren Lösungsvorschlägen und tatkräftig in deren Umsetzung. Dafür ist sie auch 100 Jahre nach ihrem Tod noch vorbildlich.